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Für manche Leute ist Prozessmanagement ein rotes Tuch. Sie denken dabei an Inflexibilität, an Formulare und Null-acht-fünfzehn. Für Kreative Geister also die perfekte Spaßbremse. Vor allem, wenn dabei um irgendeine DIN-ISO-Schlagmichtot geht, kämpfen Prozessmanager einen verlorenen Kampf. „Wir sind doch hier nicht in einem Call-Center – wir machen individuellen Service!“ schallt es ihnen entgegen. Die Angst vor Gängelung, Austauschbarkeit und Formalismus ist ja nicht unbegründet – allzu oft führten BPM-Projekte genau in diese Sackgasse. Hier will ich zeigen, wie es anders geht.

Prozessmanagement ist nicht Standardisierung

Standardisierung ist das größte Missverständnis über Prozessmanagement. Diese irrige Wahrnehmung hat die Zunft sich aber selbst zuzuschreiben – wenn sie Reifegradmodelle propagiert, in denen „standardisiert“ – „vorhersehbar“ – „innovativ“ als Steigerung einer so genannten „Prozessreife“ verkauft wird. In Wirklichkeit geht es vielmehr darum, für jeden Prozess abzuwägen, wo Standardisierung Sinn macht wo ungeplante Freiheit kreativ handelnder besser ist. Ein guter Prozessmanager gibt die Lösung nicht vor, sondern stößt die Diskussion darüber an. Wie viel Planbarkeit brauchen wir, wie viel Reaktionsspielraum wollen wir?

Lose und feste Koppelung in Prozessen verstehen

Standardisierung ist ein Kontinuum: Am einen Pol haben wir Organisationen, wo allen Handlungen völlig lose miteinander gekoppelt sind, wie in einer Künstlerkooperative: Du kannst machen was du willst (oder es auch lassen), Hauptsache du gehörst dazu. Die Aktivitäten sind lose gekoppelt, die Akteure dagegen fest gekoppelt: solche kreativen Zirkel sind meist informell ziemlich geschlossene Veranstaltungen.

Am anderen Pol die komplett durchstrukturierten Organisationen der Servicewüste – das finden wir häufig in Call-Centern: Da ist genau festgelegt, welche Transaktionen möglich sind – Extrawürste sind nicht zu haben, selbst die professionell freundliche Begrüßung am Telefon klingt wie auswendig gelernt. Für Kunden der Grauen! In letzter Konsequenz sind solch hoch standardisierte Abläufe jederzeit automatisierbar: Wie viele Unternehmen bieten heute gar kein Call-Center mehr sondern verweisen den fragenden Kunden ausschließlich auf‘s Webportal?

Akteure und Aktionen sind lose oder fest gekoppelt. Die beiden Koppelungen sind komplementär.

Akteure und Aktionen sind lose oder fest gekoppelt. Die beiden Koppelungen sind komplementär.

Zwischen beiden Polen liegt die Wahrheit in den meisten Unternehmen. Und als Prozessmanager hat man die Aufgabe, das richtige Maß auf dieser Skala zu finden. Dabei hilft auch kein „Best Practice“ oder „Reifegrad“ von der Stange – das ist Organisationsentwicklung.

Wer nur einen Hammer hat, sieht überall Nägel

Warum aber schlittern so viele BPM-Projekte wider Willen in die Standardisierungsfalle? Einer der Gründe könnte in der eingeschränkten Wahrnehmung bei Prozess-Analysen sein: Wer einen variantenreichen Vertriebsprozess in einem Prozessmodell erfassen will, sieht sich vor der Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder ich abstrahiere so stark, dass alle Varianten eingebunden sind und das Modell nichts mehr aussagt oder ich produziere ein Prozessmodell mit so vielen Verzweigungen, dass niemand mehr was versteht.

Als scheinbarer Ausweg bietet sich die Standardisierung an: Weil die facettenreiche Realität nicht ins Bild passt, wird sie vereinfacht. Und immer wieder finden sich Manager, die den Weg mitgehen und „par ordre du Mufti“ einen Standardprozess dekretieren. Kein Wunder, wenn das später nicht klappt. Wer als einziges Werkzeug einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.

Ad-hoc-Prozesse steuern lose Strukturen

Ein besserer Werkzeugkasten kann also schon in der Analyse eines Projektes helfen. Mit dem Konzept des Ad-hoc-Teilprozesses bietet die BPMN eine Möglichkeit, halb strukturierte bis gar nicht strukturierte Phasen in Prozessen darzustellen ohne ihnen durch die Modellierung künstliche Struktur aufzupfropfen. So kann man darstellen, wo ein Prozess strukturiert ist (meistens werden Prozess-Phasen erkennbar), und wo wegen zahlreicher Varianten oder kreativer Spielräume diese Struktur verschwimmt. Für die Steuerung, Vorhersage und Beobachtung solcher Prozesse ist diese Strukturierung aber schon ein enormer Fortschritt. Häufig reicht das auch für QM-Zwecke.

BPMN-gestützte Process-Engines sind in der Lage, auf der Basis von Ad-hoc-Teilprozessen die Automatisierung von Prozessen zu unterstützen. Dann spielen der kreativ denkende Fall-Bearbeiter und der automatisch ablaufende Prozess Hand in Hand. Es lohnt sich also, den BPM-Werkzeugkoffer zu erweitern und sich mit den Spielarten der BPMN-Teilprozesse zu beschäftigen.

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