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Wie zu viel Stress Organisationen krank macht

Zu viel Stress macht krank. Das gilt nicht nur für unsere persönliche Gesundheit, sondern auch für das Funktionieren unserer Organisationen. Die Change Management Literatur versucht uns weis zu machen, dass nach dem Gesetz des Marktes nicht der Große den Kleinen frisst, sondern der Schnelle den Langsamen. Und natürlich liefern die Autoren gleich beredte Beispiele von Unternehmen, die sich nicht rechtzeitig angepasst haben und von Newcomern mit so genannten „disruptiven“ Innovationen aus dem Wettbewerb gefegt wurden.

Hinterher ist man immer schlauer

Diese Art der Post-Mortem-Analyse ist allerdings ziemlich mager, denn es fehlt der Verweis auf die umgekehrten Erfahrungen: Unternehmen, die an zu schnellem Wandel ersticken oder im Dickicht von überlagernden Projekten steckenbleiben. Die Ratgeber machen uns glauben, Erfolg von Change Projekten sei nur eine Frage des richtigen Management. Zu jedem dokumentierten Misserfolg findet sich auch ein passender Managementfehler. Hinterher ist man eben immer schlauer – und die Experten melden sich erst „danach“.

Wir können Prozesse nicht verändern

Allein der Begriff „Change Management“ ist irreführend. Wer sich als Projektmanager oder Berater anschickt, die Organisation zu verändern, verhebt sich daran. Sie können die Aufbauorganisation einreißen, Vorgesetzte austauschen und Teams neu zusammensetzen: Aber wie die tägliche Kommunikation in der neuen Struktur funktioniert, das entwickelt sich im System. Und oft genug sehen wir, dass es trotz aller Planung und „best practice“ im Alltag nicht funktioniert.

Der Segen stabiler Prozesse

Prozesse sind Kommunikationsmuster in Systemen. Und solche Muster sind in aller Regel sehr stabil gegen Störungen. Diese Stabilität ist übrigens eine Überlebensbedingung von Unternehmen: Stellen Sie sich vor, Ihre Buchhaltung müsste nach jeder Änderung der Reisekostenrichtlinien bei Adam und Eva anfangen, ihre Buchungsprozesse neu zu definieren. Auch der Austausch von Personen ist nur möglich, weil die subtilen Prozesse stabil laufen. Und das ist kein Verdienst der Prozessmanager – stabile Prozesse sind älter als das Wort, das sie beschreibt.

Organisationen reagieren auf Störungen

Aufbauorganisationen, Softwaresysteme und Regelwerke sind Strukturen, die die tatsächlichen Prozesse unterstützen und stabilisieren. Wenn wir diese Strukturen ändern, ist der Prozess gestört. Er muss sich neu stabilisieren – also anpassen. Die wichtige Nuance in dieser Regel ist: Als Change-Projekt können wir die Strukturen verändern, aber nicht den Prozess. Der wird sich danach autonom anpassen. Und das braucht Zeit.

Organisationsentwicklung kann diesen Lernprozess in der Organisation unterstützen. Und wenn Organisationen Erfahrung in Anpassungsprozessen gesammelt haben, wird dieses Lernen mehr oder weniger vorhersehbar. Aber diese Erfahrung sammelt die Organisation, nicht der Change Manager. Auch ein erfahrener Projektleiter kann Lernprozesse in der Organisation nicht beschleunigen – er kann höchstens verzögernde Faktoren reduzieren.

Zu viel Veränderung führt zum Change-Infarkt

Und weil diese Anpassung Zeit braucht, kann Veränderung nur schrittweise gelingen. Zu viele Veränderungsprojekte führen zum Change-Infarkt. Aber zum Glück verfügen Organisationen über eine wunderbare Pufferkompetenz: Sie sitzen Veränderungsprojekte einfach aus und schalten auf „Durchzug“. Change Manager verzweifeln daran und versuchen, mit noch mehr Change Kommunikation gegen den Überlebenstrieb der Organisation anzumanagen. Gelingt es ihnen, geht dem Unternehmen die Luft aus.

„Qui va piano va sano e va lontano.“ Es wird Zeit, dass wir uns den Floh des Change Management aus den Ohren zupfen und Organisationsentwicklung mit Augenmaß betreiben.

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